Die sechsten Retail Innovation Days der DHBW Heilbronn: Zwischen Krieg und Nachhaltigkeit – der Handel im Spannungsfeld der Zukunft

Der Handel steht vor nie dagewesenen Veränderungen: Einerseits wird die Branche mit Realitäten wie dem Ukraine-Krieg und dem Klimawandel konfrontiert, andererseits baut sich abseits der physischen Welt ein Metaverse mit enormem Umsatzversprechen auf. Wie der Handel Chancen ergreift, neue Technologien nutzt und gleichzeitig die Klimakrise meistern kann, davon berichteten renommierte Expert*innen bei den Retail Innovation Days 2022 der DHBW Heilbronn. Sie präsentierten nachhaltige Zukunftsstrategien, innovative Storekonzepte, Best-Practice-Beispiele und Ausblicke in die virtuelle Realität. Das Team um Prof. Dr. Oliver Janz, Prof. Dr. Carsten Kortum, Prof. Dr. Stephan Rüschen, Prof. Dr. Ralph Scheubrein und Prof.in Dr.in Daniela Wiehenbrauk organisierte in dieser Zusammensetzung bereits die sechsten Retail Innovation Days – vom 13. bis 14. September wieder in Präsenz in der Aula am Bildungscampus.

Den ersten Applaus des Tages erntete die Geschäftsführerin der TRIGEMA Inh. W. Grupp e.K., Head Of Human Resources Management und E-Commerce, Bonita Grupp. Auch der schwäbische Textilhersteller ist von den aktuellen Entwicklungen stark betroffen: Da Trigema vollstufig in Deutschland produziert, steigen nicht nur die Personal-, sondern auch die Energiekosten. So ist beispielsweise Färben in Türkis energieintensiver als in hellblau, weshalb die Farbe aus der kommenden Saison verschwinden wird. Trigema überdenkt noch weitere Produktionsprozesse und zieht alternative Energiequellen wie Biomasse in Betracht. Doch zu Corona-Zeiten hatte die Firma rund um Gründer Wolfgang Grupp einen ganz klaren Standort-Vorteil: sie konnten mit den 700 Näher*innen vor Ort produzieren und war nicht auf Lieferanten aus Fern-Ost angewiesen. Nachhaltigkeit ist in Burladingen mehr als ein Schlagwort: Trigema überzeugt durch faire und soziale Arbeitsbedingungen, eine transparente Lieferkette und jahrzehntelange Beziehungen zu Lieferanten. Auch mit der Cradle-to-Cradle Kollektion, die kompostierbare Mode anbietet, war Trigema 2004 Vorreiter der Slow-Fashion-Industrie. 

Wirtschaft und Nachhaltigkeit – kein Gegensatz mehr
Was das Thema Lieferkette angeht, werden auch die anderen deutschen Unternehmen bald nachziehen müssen: Prof. Dr. Thomas Klindt von der Kanzlei Noerr erläutert in seinem Vortrag auf humorvolle Weise die Stolpersteine und Grundpfeiler des neuen Lieferkettengesetzes. Fazit: Auch, wenn das Gesetz momentan noch nicht konturenscharf formuliert ist, meint es die deutsche Politik ernst. 250 Mitarbeiter sollen bei der neuen Behörde arbeiten, jeder Verstoß kann mit einem Bußgeld geahndet werden, aber vor allem droht öffentlicher Verlust der Reputation. In welchem Umfang es auch für den Handel gelten wird, ist jetzt allerdings noch nicht klar. 

Wie man aus dem Thema Abfall ein erfolgreiches Geschäftsmodell macht, zeigte der Sprecher der Geschäftsführung der PreZero Dual GmbH, Stephan Garvs: Das Unternehmen wurde erst 2019 gegründet, ist aber bereits in 11 Ländern mit 475 Standorten und 12.000 Fahrzeugen unterwegs. Die Kernfrage hinter der Unternehmensgründung ist: Wie kann ich Produkte möglichst lange nutzen und wieder dem Kreislauf zuführen? PreZero arbeitet zwar mit modernsten Technologien wie KI-basierter Objekterkennung in 30 modernen Sortieranlagen, aber trotzdem kann ohne die Mitwirkung jedes Einzelnen keine saubere Mülltrennung erfolgen. Das fängt bereits beim Joghurtbecher an: Wenn der Aludeckel nicht entfernt wird, kann nicht sortenrein getrennt werden. Aktuell ist das, was im gelben Sack landet, noch bis zu 50 Prozent nicht verwertbarer Müll.  

Für Rolf Heimann, den CEO der Hessnatur Stiftung, ist die Nachhaltigkeit ohnehin kein nice-to-have mehr, sondern Wertetreiber. Kein Textilunternehmen kann in Zukunft sein Geschäft mehr ohne Transparenz entlang der Wertschöpfungskette betreiben. Nachhaltiges Wirtschaften sichert die Umsätze der Zukunft. Auch Sepp Braun vom Biolandverband nimmt Nachhaltigkeit ernst: Sein Hof ist ein Blickfenster in eine nachhaltige Zukunft. Durch die Vernetzung von Flächen und den Anbau von Wiesen- und Kleemischungen hat er den Humusgehalt seiner Erde um 3 Prozent gesteigert. 50.000 schnellwachsende neu angepflanzte Bäume produzieren Pflanzenkohle für die autonome Energieversorgung. Studien beweisen: Wenn sich die Agrarwirtschaft anschließt und den Humusgehalt der Erde nur um 1,5 Prozent erhöht, dann kann die Kühlleistung des Erdballs wieder signifikant gesteigert werden. 

Der Non-Food-Markt im Spannungsfeld zwischen Corona und Krieg
Gestern noch in Köln in der „Höhle des Löwen“, heute auf dem heißen Stuhl in der Fragerunde mit fünf Studierenden des Kurses Non-Food-Handel. Ralf Dümmel, erfolgreicher Investor, Löwe und Unternehmer stellte sich den der Studenten Andreas Bitto, Alex Horn, Dominic Fuhlbrügge und Benedikt Bucher. Das wichtigste Fazit: Handel sollte – wie alle anderen Berufe – eine Passion sein. Für die Karriere selbst gibt es keine Blaupause. Für Dümmel, der selbst nicht studiert hat, ist die DHBW eine hervorragende Einrichtung. Aber auch soziale Kompetenzen wie Flexibilität und hohe Motivation sind wichtig. Das ist allerdings keine Einbahnstraße, denn der Arbeitsmarkt hat sich zu einem Arbeitnehmermarkt entwickelt, der Fachkräftemangel ist an jeder Ecke spürbar. Auf die Frage eines Handels-Studenten, ob er nicht lieber Digital Commerce Management hätte studieren sollen, beruhigt Dümmel: Es wird immer Kunden geben, die lieber in stationäre Geschäfte gehen und die Beratung vor Ort schätzen. Doch seiner Ansicht nach hat die Digitalisierung den Handel komplett verändert. Neue Entwicklungen schwappen nicht mehr nach einem Jahr, sondern nach einer Woche aus den USA herüber. Händler müssen schnell sein und auf die Wünsche der Kunden reagieren. Ein Beispiel: Seit Beginn der Energiekrise bietet sein Unternehmen einen Duschkopf an, der nach fünf Minuten unter der Dusche rot leuchtet. 
Auch für den CEO der Weltbildgruppe, Christoph Sailer, bot die Digitalisierung des „Büchosaurus“ Weltbild, des mittlerweile 70 Jahre alten Unternehmens, den Ausweg aus der Insolvenz: Mit einem Konglomerat an verschiedenen Online-Shops, die auf verschiedene Zielgruppen zugeschnitten sind, aber zentral verwaltet werden, hat Weltbild mittlerweile 9 Millionen aktive Käufer*innen. Ein wesentliches Marketing-Instrument ist der Aufbau von Themenwelten und das Cross-Selling über die einzelnen Shops hinweg. Während sich Prof. Dr. Carsten Kortum und Prof. Dr. Stephan Rüschen auf der Bühne noch einen verbalen Schlagabtausch zum Thema Handzettel lieferten, bleibt Weltbild noch beim bewährten Katalog: Mittlerweile bringt der Verlag sogar 14 kleine Kataloge auf das Jahr verteilt heraus. 

Ob diese Erfolge im Non-Food-Bereich in den nächsten Monaten bleiben werden, dessen ist sich Martin Langhauser, CEO der Gesellschaft für Konsumentenforschung (GfK) nicht sicher: Ganz aktuelle Zahlen bestätigen, dass die Kaufbereitschaft der deutschen Bevölkerung im Non-Food-Markt rasant abnimmt, teilweise schon Werte von minus 35 Prozent erreicht. Auch die Bergfahrt des Fashion- und Lifestyle-Segments könnte bald ein Ende haben. Während im ersten Halbjahr noch 123 Prozent mehr Umsatz mit Lifestyle- und Modeprodukte gemacht wurde, gehört er Modehandel jetzt wieder zu den Verlierern der Energiekrise. 

Erstmals wurden auf den Retail Innovation Days die Retail Innovation Awards vergeben: Aus 100 Innovationen selektierte eine Jury 15 Konzepte. In jeweils drei Kategorien stimmte das Publikum per Voting über die neuen Träger des Retail Innovation Leader ab. Alle Innovationen werden im Retail Innovation Report 2022 vorgestellt. Der Report kann auf www.handel-dhbw.de heruntergeladen werden.

Der Store der Zukunft: Digital Natives shoppen anders
Den vorgestellten Konzepten, sind zwei Dinge gemeinsam: Im Zentrum aller Ideen steht der Kunde; digitale Technologien und die analoge Welt verschmelzen. Auf dem Haustiermarkt ist Fressnapf – das erste Best-Practice-Beispiel des Nachmittags, seit langem Nummer eins. Warum sie auch Innovationsführer sind, präsentierte Manuel Cranz, Vice President Ökosystem, Fressnapf hat - ausgehend vom Kunden im Zentrum – ein komplettes Ökosystem um das Thema Tier und Tierliebhaber aufgebaut. Egal, welches Produkt oder welche Dienstleistung, der Kunde findet sie im Laden oder online. Das kann der Besuch im Hundesalon oder beim Tierarzt in den neu ausgerollten Filialen sein, aber auch der virtuelle Videochat mit dem Arzt im Urlaub. Fressnapf arbeitet ständig an Weiterentwicklungen wie dem digitalen Hundewunschberater, der Liebhaber*in die passenden Hunde vorschlägt, komplett mit Züchter- und Tierheimkontakten. 

Der Quick-Commerce-Anbieter annanow hat bereits 33 Kunden, darunter Großkunden in der Schweiz, von seinem Ansatz überzeugt. In einer Zeit, in der viele Produkte austauschbar sind, hat annanow den digital native im Fokus, der nicht bereit ist, lange auf seine Bestellung zu warten. Dafür haben sie ein dezentrales Netz an Lieferanten und Lieferdiensten aufgebaut, die die Ware vom nächstgelegenen Punkt auf dem schnellsten Weg zum Kunden bringen. Im Zentrum des Ganzen steht ein hochentwickelter Algorithmus: die Software sieht, wo die Produkte erhältlich sind und erteilt den dann den Auftrag. 

Der europaweit erfolgreiche Online-Händler Knuspr.de verfolgt – hier vorgestellt durch seinen Commercial Director Jan Gerlach - eine andere Strategie: aus dem zentralen Lager von 10.000 Quadratmetern und fünf verschiedenen Kühlzonen werden die Waren kommissioniert und dann mit einer eigenen Flotte von Wagen an sechs Tagen in der Woche ausgeliefert. Das Lieferversprechen von Knuspr ist ambitioniert: drei Stunden nach Bestellung ist die Ware da. Besonders an Knuspr ist die hohe Anzahl an Produkten, der Anteil von frischen Produkten regionaler Anbieter – 50 Prozent – und von Bioware – 30 Prozent. Die Idee kommt an: der Großteil der Kunden kommt durch Empfehlungen, mit einer Google-Bewertung von 5,0 kann man an der Kundenzufriedenheit wenig verbessern. 

Smart Stores – also Systeme mit Grab-and-go-Konzept oder Selfcheckout – haben als Nischenmarkt Europa erobert. Prof. Dr. Stephan Rüschen und die akademische Mitarbeiterin Julia Schumann präsentieren die neuesten Ergebnisse der Smart-Store-Forschung: Mittlerweile gibt es über 50 verschiedene Konzepte in Deutschland, die mit der Entwicklung von Technologie und Software immer mehr werden. Gerade auf dem Land mit Versorgungslücken wird der Smart Store dringend gebraucht.

Braucht jeder Händler einen Shop im Metaverse?
Die letzte Session machte Heilbronn kurzfristig zum Zentrum des Metaverse und gab eine Momentaufnahme des Web 3.0 und einen Ausblick in die nahe und ferne Zukunft. Die Brand-Expertin, Kommunikationschefin vom Partyausstatter Deiters in Köln und DHBW-Absolventin Corinna Dahlhaus erläuterte ihre innovative Marketing-Strategie. Mit Hilfe buntgekleideter Affen (Bored Apes), die man im Web 3.0 minten (also erwerben) kann, erschließt sich der traditionelle Kostümhändler eine neue Community und bringt den Partyspaß von der Realität ins Netz – und wieder zurück.

Doch die Bored Apes tragen nicht nur Deiters Kostüme, sondern auch Schuhe von adidas – und zwar in 30 000 NFT’s, die zu einem Preis von ca. 4.000 Euro innerhalb einer halben Stunde im Metaverse verkauft wurden. Roland Häussermann von Ernst Young zeigte damit, welches finanzielles und Marketing-Potential im Metaverse steckt, allerdings auch die Tücken: In der virtuellen Welt verschwinden geografische Grenzen, auch Identitäten sind nicht rechtssicher abgeklärt. Daher braucht es standardisierte Prozesse und robuste Organisationsstrukturen für die tägliche Arbeit. 
Dass sich früher oder später Standards herausfiltern werden, war auch für Max Michel von Meta, keine Frage. Sollten die Hardware-Entwicklungen, Rechnerleistungen, die Geschwindigkeit der Datenübertragungen sich in den nächsten 15 Jahren wunschgemäß entwickeln, ist nichts unmöglich: Redner-Hologramme, die mit einem Publikum agieren, dass sich Tausende von Kilometern weit weg befindet, oder eine Runde Ping Pong mit dem Freund in Australien spielen. Momentan allerdings bewegen sich Avatare noch ohne Beine über den Bildschirm, da die Darstellung von Beinen an Avataren einen zu hohen Rechenaufwand erfordert. 

MetaCity – das letzte Unternehmen des Nachmittags - ist ein Spiegeluniversum, das auf Augmented Realität basiert. Die neue Hauptstadt des Metaverses verspricht nicht nur einen sicheren Zugang zum Metaverse, sondern auch ein einmaliges Residency-Erlebnis und z.B. die Möglichkeit, mit Hilfe der Residency Card nicht nur einzukaufen, sondern auch einen Shop zu eröffnen. Warum man jetzt ins Metaverse einsteigen sollte? Weil man sonst verliert, so die Überzeugung des CEO’s von MetaCity Michael Zoelzer und seinem Advisor Severin Wilson. Allein die Firma Nike hat mit den NFT’S über 180 Millionen Dollar Umsatz erwirtschaftet. Coin Mining ist zwar erst der Anfang, doch das Metaverse der Zukunft wird die Welt für eine Community, die in Zukunft ganz anders kommuniziert, für Kunden, die auf neue Weise einkaufen und sich Produkte wünschen, die es jetzt noch nicht gibt.