Kongress „Personalisierte Ernährung“: Die optimale Ernährung jedes Einzelnen und was die Digitalisierung dazu beitragen kann

Was in unserem Körper bestimmt, welches Essen gut für uns ist? Wissenschaftler*innen beschäftigen sich schon seit Jahrzehnten mit Genen, Mikrobiomen und der individuellen Darmflora, um zu erklären, welche Nahrungsmittel für jeden Einzelnen besonders gesund sind. Aber ermöglichen sie uns tatsächlich ein gesünderes und längeres Leben? Der Kongress „Personalisierte Ernährung“ am 5. Oktober der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) Heilbronn gab einen Überblick über aktuelle wissenschaftliche Diskussionen und unternehmerische Ansätze zur personalisierten Ernährung.

Themenschwerpunkte bildeten die Genetik, Public Health sowie stoffwechselorientierte Anwendungen im Alltag. Der Kongress diente als Diskussionsplattform für Wissenschaftler*innen aus der Medizin, den Ernährungswissenschaften, der Biologie und der Technik, richtete sich aber auch an den Handel und Start-Ups, die Produkte und Dienstleistungen rund um das Thema anbieten. Die Investmentbank UBS schätzt, dass im Jahr 2040 Produkte und Dienstleistungen im Wert von 64 Mrd. US-Dollar in diesem Bereich umgesetzt werden könnten.

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Digitalisierung als Chance für die Personalisierte Ernährung

Rektorin Prof.in Dr.in Nicole Graf begrüßte die – aufgrund der Pandmie auf 80 begrenzten – Teilnehmer*innen in der Aula auf dem Bildungscampus und etwa 250 weitere online an den Bildschirmen: „Die DHBW Heilbronn gilt als Kaderschmiede für die Lebensmittelbranche. Daher ist es naheliegend, dass wir uns auch in der Forschung mit aktuellen Fragestellungen rund um die Ernährung auseinandersetzen.“ Insbesondere durch die Digitalisierung von Gesundheitsdaten wie etwa durch Smartphones und Smartwaches erhalte die Forschung rund um die personalisierte Ernährung ganz neue Möglichkeiten zur Datensammlung und -verarbeitung.

„Mithilfe von Künstlicher Intelligenz können sehr viel komplexere Daten zusammengebracht und interpretiert werden“, schloss sich Forschungsleiter Prof. Dr. Günter Käßer-Pawelka an. Dabei müsse künftig noch weitergedacht werden. Neben den biometrischen Daten bei der Nahrungsaufnahme spielten auch die Lebensmittel selbst eine wichtige Rolle, deren Qualität von Faktoren wie Anbaubedingungen (Landwirtschaft), Verarbeitung (Gastronomie) und dem Angebot von Lebensmitteln (Handel) abhängig seien. In der Forschung sei hier noch „viel Luft nach oben“. Er dankte der Dieter-Schwarz-Stiftung, für die Finanzierung des Forschungsprojektes.

Die beiden Gastgeberinnen und wissenschaftlichen Leiterinnen des Forschungsprojektes „Personalisierte Ernährung“ Prof.in Dr.in Katja Lotz und Dr.in Cornelia Klug sahen gerade in der Digitalisierung die Chance, Gruppen zu erreichen, die sich bislang wenig mit Ernährungs- und Gesundheitsthemen auseinandersetzen. Zugleich spiele das Vertrauen in KI-gestützte Anwendungen eine wesentliche Rolle, welches jedoch durch einen steigenden Kommerzialisierungsgrad von Anwendungen geschmälert würde. Es sollte heute die Salutogenese, also die Betrachtung dessen, was den Menschen befähigt, sich gesund zu fühlen, wesentlich individualisierter und genussorientierter in Ernährungsempfehlungen einbezogen werden.

DNA-Diät zu kurz gedacht

In ihrem Vortrag gab Nutrigenomik-Gründerin Prof. Dr. Hannelore Daniel einen ersten Überblick über die bisherigen Erkenntnisse in der personalisierten Ernährung: Forscher hätten in den vergangenen Jahrzenten eine Fülle von Forschungsstudien angehäuft, um das komplizierte Puzzle aus Genen, Nahrung und Stoffwechselprodukten zusammenzusetzen, das unser Wohlbefinden beeinflussen soll. Ihr Fachgebiet ist die Nutrigenomik, ein Kunstwort aus nutrition (Nahrung) und Genomik. Die Ergebnisse seien jedoch ernüchternd, so Daniel. Tatsächlich hätten die Forscher*innen aufgrund der Genanalyse nur einen kleinen Einfluss auf individuelle Risiken erklären können. Im menschlichen Genom gebe es Millionen Varianten, diese zu untersuchen sei bislang viel zu komplex. Darüber hinaus sei der Ansatz „gesunde Menschen noch gesünder zu machen“ eindimensional, es müssten auch andere Faktoren wie die CO2-Bilanz, das Tierwohl, Fair Trade, Nachhaltigkeit und der Preis von Lebensmitteln bei der persönlichen Ernährung eine Rolle spielen.

Personalisierte Therapie bereits erfolgreich

Auch Grundlagenforscher Prof. Dr. Lars Steinmetz, Professor für Genetik an der Stanford University,Co-Direktor des Stanford Genome Technology Centers und Arbeitsgruppenleiter EMBL Heidelberg räumte ein, dass die Wissenschaft noch zu wenig über Mechanismen von genbedingten Krankheitsrisiken verstehe. Jedoch ermögliche es die Sequenzierung von Genomen sowie die Zell- und Molekülanalyse eine Präszisionsmedizin gegen Krebs-, Herz- und Immunerkrankungen zu entwickeln. „Die Medizin wird sich in der Zukunft grundlegend verändern, diagnostische und therapeutische Strategien werden genauestens auf jeden Patienten zugeschnitten um Krankheiten zu behandeln oder sogar zu verhindern.“

So praktiziert es bereits Prof. Dr. med. Uwe Martens, Direktor der Klinik für Innere Medizin III an der SLK-Klinik in Heilbronn und Mitgründer des MOLIT Instituts für personalisierte Medizin. Es gebe nicht „den Krebs“, sondern sehr viele unterschiedliche Varianten. „Jede Erkrankung ist individuell zu sehen und zu behandeln.“ Bei der personalisierten Krebstherapie werden eigene Profile für jeden Tumor erstellt und gezielt mit einer sogenannten Immuntherapie behandelt.

Forschung ermöglicht objektivere Messmethoden

Wie kann man die Erkenntnisse der Epigenetik und Genetik nutzen, um die Ernährungsforschung präziser und objektiver zu gestalten? Der aus Heilbronn stammende Ernährungswissenschaftler Prof. Dr. Gerhard Rechkemmer, langjähriger Präsident des Max-Rubner-Instituts, wertete die aktuelle nationale Verzehrsstudie der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) aus. Messprotokolle der Probanden seien fehlerhaft, weil die Portionsgrößen nur geschätzt oder die Zubereitungsarten der Lebensmittel ungenau erfasst würden. Verbinde man jetzt z. B. eine gerichtete Messung von Biomarkern im Blut der Probanden mit dem Messprotokoll, könne  eine genauere Analyse des Stoffwechsels vorgenommenn und die Zusammenhänge zwischen Ernährung, Stoffwechsel und Krankheiten besser analysiert werden. „Eine Neuausrichtung der Forschung und Kommunikation ist dringend notwendig“, so das Fazit Rechkemmers.

Von der Ernährung zum Genusserlebnis – neue Wege der Kommunikation

Trotz aller Ernährungsempfehlungen des DGE essen die Deutschen zu viel Zucker, Salz und Fette. Das zeigt eine Studie des Biotechnologieunternehmens BRAIN AG und der Martin-Luther-Universität Halle von 2020. Ungesunde Ernährung und die daraus resultierende Adipositas kostet das Gesundheitssystem jährlich 16,8 Mrd. Euro. Viele der Empfehlungen werden entweder nicht befolgt oder gar nicht wahrgenommen. Das Problem: Ernährungskommunikation ist eine komplexe Angelegenheit mit vielen Stakeholdern - der Politik, den Herstellern, dem Gesundheitswesen, der Bildung und dem Handel. Prof. Dr. Christine Brombach von der Forschungsgruppe für Lebensmittel-Sensorik und Professorin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften betrachtete noch einen weiteren oft vergessenen Aspekt: „Ernährung ist nicht gleich Essen.“ Während sich beim Essen alles um ein genussvolles Erlebnis dreht, ist Ernährungskommunikation oft noch dogmatisch und wenig ansprechend. Mit der Digitalisierung der Kommunikation stehen viele Wege offen, Empfehlungen persönlicher zu gestalten, aber auch andere und neue Formate auszuprobieren. Gerade die jüngeren Generationen Alpha und Beta zeigen ein ganz anderes Kommunikationsverhalten als die Baby-Boomer und Nachkriegsgenerationen.

Anwendungen für den Alltag noch in den Kinderschuhen

Unter der Moderation der Gründerin von Nutrition Hub Dr. Simone Frey tauschten sich Vertreter*innen der Forschung und des Handels über die Anwendungsreife der Personalisierten Ernährung aus. Prof. Dr. Stephan Rüschen, Handelsexperte und Studiengangsleiter der DHBW Heilbronn, brachte seine Vorstellungen so auf den Punkt: „Wenn ich eine App habe, die meine Vorerkrankungen kennt, aber auch weiß, was ich nicht gern esse und die mir dann sagt, was ich einkaufen soll und dass ich es im Regal 15 in der unteren Reihe finde, dann würde ich das machen.“ Und auch der Handel, so ist Rüschen überzeugt, ist neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen, wenn sie einen konkreten Nutzen versprechen. Andere Teilnehmer der Runde sind wiederum skeptisch: „Momentan ist die Datenlage unzureichend. Um unsere Forschung auszubauen und genaue Empfehlungen zu geben, brauchen wir unabhängige umfassende Informationen“, fordert Dr. Christina Holzapfel von der medizinischen Fakultät der TU München. Auch wie man neue Sensoren entwickelt, die – ähnlich den Smartwatches – mehrmals am Tag das Blutbild messen und dann Empfehlungen kommunizieren, steht momentan noch in den Sternen.

Persönliche Ernährung 2030

Die Visionen, die die Expert*innen für die Zukunft der Personalisierten Ernährung entwarfen, bewegten sich an beiden Enden der Skala: Während sich die einen wünschten, dass der Megatrend in einigen Jahren nicht in Vergessenheit geraten sein wird, sahen es andere wiederum eher positiv. Dr. Silke Lichtenstein von der Dr. Rainer Wild-Stiftung zeigte anhand aktueller Entwicklungen, wie sich das Ernährungsthema in der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten verändert hat: Gerade für die junge Generation sei Ernährung neuer Ausdruck der Persönlichkeit. In manchen Restaurants könne man ohne viel Aufwand zwischen 1.000 Kombinationen entscheiden. Vegane, glutenfreie und vegetarische Gerichte seien mittlerweile massentauglich. „Individualisierung bedient einen Zeitgeist. Nur definiert sie jeder anders.“Über eins waren sich alle Forscher*innen, Händler*innen und Expert*innen einig: Um weiter voran zu kommen, brauche es ein Miteinander aller Akteure. Nur an einem Tisch könnten Forschungsergebnisse für alle zugänglich gemacht werden und Innovationen vorangebracht werden.

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